selektive wahrnehmung


Die gute Nachricht ist: Mein Blockwartnachbar zieht weg. Die schlechte: Das Haus, in dem er gewohnt hat, - ein kleines hübsches Altbau-Einfamilienhaus -wird abgerissen und es kommt ein Neubau hin. Wahrscheinlich ziehen da dann ganze Horden Jungwerberhipster ein mit Klugscheißerhornbrillen und ironischen Oberlippenbärtchen. Deren Vorstellung wie ihre Umgebung auszusehen hat unterscheidet sich zwar von der Vision des Blockwartes ist aber genauso dogmatisch. Es geht halt immer noch schlimmer. Vielleicht kommen sogar Schwaben. So langsam haben die in Berlin ja keinen Platz mehr. Wir müssen aufpassen: Anscheinend werden sie von zukunftsträchtigen Prestigebautenruinen angezogen. Da fühlen sie sich zu Hause. Von Stuttgart 21 zum Flughafen Berlin...da ist der nächste Schritt zur Elbphilharmonie quasi vorgezeichnet. Demnächst steht auch auf unseren Hauswänden das, was man überall in Leipzig finden kann: „Schwaben zurück nach Berlin".

Und vielleicht müssen wir dann hier auch das von der Satirezeitung Postillion extra für den Flughafen Berlin erfundene Futur III einführen: Das Futur III ermöglicht dem Sprecher, ein Ereignis in der Zukunft zu beschreiben, das höchstwahrscheinlich nicht eintrifft, weil es ohnehin verschoben wird, nach offizieller Sprachregelung aber eigentlich zutreffen müsste.

Also sowas wie: Die Elbphilharmonie wird nächstes Jahr eigentlich längst fertig sein können gewesen müssen.

 

Aber noch ist es ja nicht so weit. Noch sind die Schwaben in Berlin und ich habe meinen Blockwart hier. Irgendwie mag ich ihn auch und werde ihn vermissen. Das ist skurril aber das kennt man doch. Das ist ungefähr wie man den Schimmel im Badezimmer vermisst, wenn er weg ist. Schon besser ohne, klar, aber irgendwie war es doch immer so. Oder mit unseren Bundeskanzlern. Es wird gemeckert und gemeckert und am Ende wird sie wiedergewählt.

Mein Lieblingswitz vom wohl besten deutschen Kabarettisten Pispers, dem die Leute seit Jahrzehnten zuhören und beipflichtend applaudieren, aber trotzdem immer wieder die gleichen Deppen wählen, ist der, daß seine Gäste in vielen Jahren, wenn alles den Bach runter gegangen ist, ihre alten Kabarettkarten herausholen und sagen können: Ich war im Widerstand.

Veränderungen sind einfach schwierig bei uns Deutschen.

Letztens habe ich meinen Blockwart mal wieder beim Aufräumen beobachtet. Er hebt eine Schokoriegelverpackung auf, betrachtet sie mißtrauisch und verärgert. Man sieht es in seinem Kopf arbeiten wie Menschen eigentlich so asozial sein können Müll hier wegzuwerfen. Bestimmt Jugendliche, asoziale Jugendliche, die sich mit Grunzen verständigen, merkwürdige Handbewegungen machen und ständig „Aller" oder „Digger" sagen. Pack. Die haben heute ja keine Erziehung mehr, keinen Anstand. Früher, ja früher - da sah das anders aus. Dann wacht er auf aus seinen Träumen, schaut sich leicht verwirrt um, geht fünf Schritte weiter und wirft das Plastik in den nächsten Busch.

Das ist nämlich nicht mehr sein Tanzbereich. Sein Bereich ist jetzt sauber - der Nachbar geht ihn nichts an. So sind Blockwarte. Es geht nicht um den Müll. Oder das große Ganze. Nur der Block zählt. Ihr Block. Früher dachten die Warte auch nicht darüber nach, wo die Juden hinkamen, die sie denunziert hatten. Deshalb hatten sie auch kein schlechtes Gewissen. Ihnen war nur wichtig, daß in ihrem Zuständigkeitsbereich keine übrigblieben. Ordnung muß sein.

Diese Ordnung hat auch mit Nachhaltigkeit nichts zu tun. Unser Blockwart trennt auch nicht. Kein gelber Sack, Biomüll schon gar nicht - der könnte ja riechen - und auch kein Papier. Seine Zeitung wirft er in den öffentlichen Mülleimer. Dafür läuft er auch gerne mal die 20 Meter. Das ist seine Art Müll zu vermeiden...

Allerdings ist das eine der ehrwürdigen Hamburger Traditionen. Mülltrennung nach Möglichkeit vermeiden. Da steht man drüber.

Ich habe schon so oft gehört:

Ich trenne doch keinen Müll und dann schütten sie ihn wieder zusammen und verbrennen ihn. Ich lasse mich doch nicht verarschen.

Also trennt der gewöhnliche Hamburger überhaupt nicht.

Mag ja sein, daß es vorkommt, dass zum Recycling bestimmter Müll dann und wann doch mal verbrannt wird, aber selbst wenn nur ein geringer Prozentsatz tatsächlich recycelt wird, ist es immer noch besser als nichts.

 

Ich komme ja aus Hessen. Das liegt übrigens südlich der Elbe - praktisch Norditalien - und direkt neben dem sagenhaften Ort, wo die Schwaben gewohnt haben, bevor sie nach Berlin gegangen sind.

In Süddeutschland ist das mit dem Recycling komplett anders. Dort sind schon vor 20 Jahren Ehen geschieden worden, weil man sich nicht einigen konnte, ob das Holzstäbchen vom Wassereis in den Biomüll soll oder in die gelbe Tonne. Der durchschnittliche Hesse hat keine Mülltonne sondern eine Sortieranlage in der Garage.

Und hier trennt kaum jemand, weil sie die Bahn mal beim Zusammenschmeißen erwischt haben. Alles andere wird ausgeblendet.

Aber so ist unsere Gesellschaft eben. Wir sehen nur das, was wir sehen wollen. Ein bemerkenswertes kollektives selektives Wahrnehmen, das der Deutsche an den Tag legt.

Und ich habe das Gefühl es wird immer schlimmer. Unlängst schrieb ich darüber, daß die Affäre Wulff in Italien Schlagzeilen machen würde, weil er seinen scheiß Kleinkredit überhaupt zurückzahlen mußte. In Italien hätte jeder Politiker bei einem solchen Vorschlag ein Gesicht gemacht wie der Kellner gestern, dem ich 7 Cent Trinkgeld hingelegt hatte. In Italien bekommen sie ihre Häuser geschenkt und keiner stört sich dran. Und auch hier haben wir ohne Ende deutlich schlimmere gestalten in der Politik.

 

Und trotzdem schlägt Wulff die deutsche Öffentlichkeit ans Kreuz. Versteht mich nicht falsch, Wulff ist ein Arschloch wie praktisch alle Politiker. aber er ist eben auch kein größeres Arschloch als die anderen. Genauso wenig wie Uli Hoeneß immer noch ein „normal großes" Arschloch ist. Er hat halt Kohle und die will er behalten. Nicht super aber leider heutzutage absolute Normalität. Genauso wie bei Wulff nageln sie jetzt Hoeneß, der immerhin versteuertes Geld in die Schweiz geschafft hat und „nur" die Zinsen bzw. die Gewinne nicht versteuert hat. „Nur" ist irgendwie nicht so richtig bei den Millionen, um die es geht, aber es gibt doch wirklich ganz andere. Es gibt haufenweise Leute, die durch Tricks praktisch gar keine Steuern bezahlen...

 

Ja, es ist schlecht Steuern zu hinterziehen, aber ich finde die heuchlerische Moral all derer, die es nicht anders machen und jetzt mit dem Finger auf irgendeinen zeigen, der sich gerade anbietet, damit bloß niemand auf sie zeigt, noch viel schlimmer. Wir hatten Ministerpräsidenten, die wegen Korruption verurteilt waren, wegen Steuerbetrug vorbestrafte Wirtschaftsminister, und einen Verkehrsminister, der wegen einer Alkoholfahrt verurteilt wurde. Ein Bundeskanzler hatte eine schwarz beschäftigte Haushaltshilfe. Alle blieben im oder kamen erst danach ins Amt. Und jetzt beharrt hier der hochanständige BILD-Leser auf Moral?

Alle haben erwartet, daß Uli geopfert wird, weil die beteiligten Sponsorenfirmen um ihre Glaubwürdigkeit fürchten und damit der Schein einer „aufrichtigen" Gesellschaft hoch gehalten werden kann, die wir einfach nicht haben und an die auch kein halbwegs intelligenter Mensch mehr glaubt.

 

Hoeneß hat betrogen. Und er wird zur Rechenschaft gezogen und es wäre auch okay, wenn er zurücktreten müßte. Aber dann müßten noch eine ganze Menge mehr Leute zurücktreten. Im Aufsichtsrat des FC Bayern sitzen solch illustre Personen wie Martin Winterkorn, Chef von VW und Porsche, der gerade eben 1,5 Milliarden Steuern durch einen kleinen Kniff bei der Porsche-Übernahme gespart hat oder Edmund Stoiber, der mehr Dreck am Stecken hat als die St. Pauli Ultras Kapuzen. Da hat jeder einzelne schon mehr beschissen als Hoeneß und ich finde es gut, daß sie das jetzt mal nicht im Sinne der Medien regeln. Hoeneß ist dann eben doch kein armer Wulff. Den kann man nicht einfach als frische Sau durchs Dorf jagen, weil es Quote bringt.

Mir ist er jetzt noch sympathischer. Ich habe nie geglaubt, daß er so moralisch ist wie er sich aufgespielt hat. Wer keinen Fehler hat werfe den ersten Stein und mit einem Fehler, der rauskommt, muß man eben umgehen. So wie er es getan hat.

Andere beschäftigen ganze Firmen, um ihr Geld zu verstecken und um überhaupt keine Steuern zahlen zu müssen.

Hoeneß ist keiner von uns - dazu hat er einfach viel zu viel Kohle - das versaut nachhaltig. Aber er ist mir näher als die Pseudomoralisten, die jetzt mit dem Finger auf ihn zeigen, weil sie entweder Spaß daran haben jemanden fallen zu sehen oder um von sich selbst abzulenken.

 

Hauptsache der Müll liegt nicht in ihrem Vorgarten. Wenn ich es mir recht überlege, werde ich den Blockwart wohl doch nicht vermissen. Ich brauche doch nur Zeitung zu lesen und finde ihn tausendfach wieder.

 

Und wenn es doch hart auf hart kommt, organisiere ich gerne mit St. Pauli ein Retter-Spiel für Uli.

 

© Thomas Nast